Ton Koopmans Rekonstruktion von Bachs unvollendeter Markuspassion in der Kölner Philharmonie ließ in jeder Hinsicht zu wünschen übrig.
Philharmonie KölnHier lässt einen sogar Bach irgendwie kalt

Ton Koopman vor einem Portrait Johann Sebastian Bachs
Copyright: Hendrik Schmidt/dpa
Muss man es bedauern, dass mehr als die Hälfte verloren gegangen, oder dankbar für das sein, was auf uns gekommen ist? Wie auch immer: Bach hat nicht zwei, sondern fünf Passionen komponiert, und von einer Leipziger Markuspassion hat sich wenigstens, wenn auch sonst nichts, das Textbuch erhalten. Klar, wissend darum, dass Bach für viele Sätze der Matthäuspassion auf bereits von ihm Geschriebenes zurückgriff, haben Musiker und Musikologen, ausgehend von der Sprachgestalt des Librettos, immer wieder aufs Neue auch für die Markuspassion nach verwendbaren Parodievorlagen gefahndet – und dabei bemerkenswerte Erkenntnisse gewonnen. Genauso lässt sich freilich die frustrierende Tatsache nicht leugnen, dass alle Rekonstruktionen – und es gibt inzwischen einige – Hypothesen sind. Und ob sich Bachs Originalpartitur noch mal auf irgendeinem Dachboden findet? Es steht dahin.
Am Karfreitag nun hat Ton Koopman, niederländischer Organist, Dirigent und so gefeierter wie sympathischer Doyen der Historischen Aufführungspraxis und ausgefuchster Bach-Experte, mit dem von ihm gegründeten Amsterdamer Baroque Choir und dem Gürzenich-Orchester in Kölns Philharmonie seine Version des Werkes vorgestellt. Sie „pfeift“ (um begrifflich im Feld zu bleiben) auf die Vorgängerversuche, vielmehr ist Koopman in den Katakomben des Bach'schen Kantatenwerks wie den überlieferten Sammlungen seiner Choräle auf frische Suche nach möglichen Vorlagen gegangen. Weil das im Fall der den Evangelientext in Musik bringenden Rezitative sinnlos ist, hat er sich sozusagen selbst die Bach-Perücke übergestülpt und das nicht Vorhandene, dem Stilvorbild des Thomaskantors nacheifernd, neu erfunden.
Vieles klingt nach Koopman, nicht nach Bach
Durchweg überzeugend ist das nicht gelungen, krause Modulationen und eine eigentümliche Figurensprache klingen halt nach Koopman, nicht nach Bach. Weil die Passionsstrecke des Markus-Evangeliums ausladend ist, handelt es sich dabei leider nicht um eine Petitesse, sondern um etwas, das – man muss es leider in den nachklingenden Publikumsjubel nach zweieinhalbstündiger Aufführung hinein feststellen – das ganze von Haus aus achtbare Unternehmen im Kern schädigt. Nein, die expressive Gewalt von Bachs originalen Evangelisten-Partien wird hier an keiner Stelle erreicht.
Alles zum Thema Kölner Philharmonie
- Johannes-Passion unter Herreweghe Zum Heulen schön
- Benefizkonzert des Bundespräsidenten Enorme Klangopulenz
- Erfolgsmusical „Cats“ kommt in aufgefrischter Fassung in die Kölner Philharmonie
- Benefiz-Konzert „Herzenssachen“ in der Kölner Philharmonie
- Kölner Philharmonie Warum Kent Naganos „Siegfried“ Stoff für Diskussion bot
- Aufführungen von „Cats“ Was für das Sommerfestival der Kölner Philharmonie geplant ist
- Gürzenich-Konzert Ein Statement im Sinn der klassischen Werksubstanz
Das gilt in der Tendenz leider auch anderweitig. Die Kompilation gerät zum wenig überzeugenden Pasticcio, dem die überwältigende architektonische und dramaturgische Stringenz der Matthäuspassion durchaus abgeht. Es lässt einen alles irgendwie ziemlich kalt. Ist der Vergleich ungerecht? Vielleicht, aber Koopman suchte erkennbar selbst im Zuge seiner Bearbeitung die Nähe zu dem überlieferten Großwerk (wofür auch die in der Tat zahlreichen Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Markus sprechen mochten): Gleich der aus der Kantate „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ übernommene (und eben umtextierte) Eingangschor ist zwar nicht doppelchörig, interpoliert aber ähnlich wie im Parallelfall der Matthäuspassion einen in Köln von einem jugendlichen Extrachor gesungenen Cantus firmus – jetzt nicht „O du Lamm Gottes“, sondern „O Haupt voll Blut und Wunden“. Paul Gerhards Lied spielt im Fortgang allerdings nicht die strukturierende Rolle, die ihm in der Matthäuspassion zuwächst. Wie diese wiederum ist aber die Markuspassion zweiteilig und endet der erste Teil mit der Gefangennahme Jesu.
Leider war auch die Qualität der Aufführung selbst nur bedingt geeignet, den erkennbaren Mängeln der musikalischen Substanz aufzuhelfen. Das gilt zum einen für die Vokalsolisten: Tilman Lichdi als Evangelist hatte mit permanenten Intonationsproblemen zu kämpfen; die Jesus-Partie liegt für Klaus Mertens' Bassbariton erklecklich zu hoch, und Elisabeth Breuers Sopran kam zu hell, zu offen, zu ungedeckt, in der Anmutung zu unbedarft herüber. So musste es, in zwei Arien, der Counter Maarten Engeltjes richten.
Der Amsterdam Baroque Choir, aus dessen Reihen auch die übrigen Soliloquenten kamen, singt freilich in allen technischen Belangen hervorragend, aber immer mal wieder wurde relativ plan und profilarm durchgesungen – auch, wenngleich nicht durchgängig, in den Chorälen. Das vorösterlich abgespeckte Gürzenich-Orchester schlug sich angesichts des vergleichsweise metierfernen Einsatzes wacker, zeigte, dass es eine satte Lektion in Sachen barocker Klangrede absolviert hatte. Aber musste der Soloflötist in seiner ersten Arie so hart abphrasieren, dass der Hörer fürchten konnte, ihm gehe bald die Puste aus? Wie man als Bläser auch im Barockrepertoire zugleich beredt und seelenvoll spielen kann, musste ihm dann etwas später der erste Oboist vormachen.