An die Freiheit muss man sich erst gewöhnen. Im Gefängnis sind alle Abläufe reglementiert, Entlassene oft entwöhnt von der Selbstständigkeit.
Nach dem GefängnisHaus Erft in Euskirchen ist ein Sprungbrett zurück ins eigenständige Leben

In der gemütlichen Gemeinschaftsküche, die von allen Bewohnern im Haus Erft genutzt wird, sind Maria Surges-Brilon und Gina Raths im Gespräch mit einem Mann, der nun bald in eine eigene Wohnung ziehen kann.
Copyright: Heike Nickel
Freiheit ist das höchste Gut eines Menschen. Für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft ist sie normal, alltäglich, beinahe gewöhnlich. Und dann gibt es jene, für die Freiheit herausfordernd sein kann, zumindest erst einmal: Menschen, die aus der Haft entlassen werden.
Ungefähr 10.000 Menschen sitzen derzeit in einem Gefängnis in NRW ihre Freiheitsstrafen ab. Irgendwann werden sie entlassen, zurück in die Freiheit und in Strukturen, die sie im besten Fall bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft stützen. Resozialisierung ist in Deutschland ein Grundrecht von Gefangenen und zugleich vorrangiges Ziel des Strafvollzugs. Die Überführung in ein eigenständiges Leben versteht sich auch als Präventionsmaßnahme: Erneute Straftaten sollen auf diese Weise verhindert werden. Doch die Realität sieht anders aus: Die Suche nach Arbeit und bezahlbarem Wohnraum oder auch der Aufbau sozialer Beziehungen gestalten sich äußerst schwierig, sobald die verbüßte Straftat Thema wird.
Sozialarbeiter unterstützen Ex-Häftlinge in Euskirchen
Seit einigen Monaten bietet der Caritasverband Euskirchen eine Art Sprungbrett für aus der Haft entlassene Männer aus den umliegenden Justizvollzugsanstalten an. Im Haus Erft in Euskirchen können sie die erste Zeit in Freiheit leben und mit Unterstützung von Sozialarbeitern den Problemen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft begegnen. Einer von ihnen ist Richy Bäcker (Name geändert), 60 Jahre alt und Vater von fünf Kindern. Er sitzt am Tisch in der Gemeinschaftsküche der Wohngemeinschaft im Haus Erft und sinniert über die Zeit, die er im Gefängnis verbracht hat.
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20 Monate waren es, vier in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach, den Rest im Offenen Vollzug in Euskirchen. „Man kann so hart wie nur was in den Knast reingehen, man kommt als Kätzchen wieder raus“, sagt er. Besonders schwierig sei für ihn die Zeit in Rheinbach in einer Einzelzelle gewesen: „Nur einmal am Tag kommt man für eine Stunde auf den Hof. Ansonsten ist man völlig weg von der Welt.“ Womit er seine Zeit verbracht habe? „Ich habe sehr viel Fernsehen geschaut, aber auch viel geschrieben. Briefe und Texte für Rap-Songs.“

Hell und freundlich: Die Männer haben alle ihr eigenes möbliertes Zimmer, das sie sich nach ihrem Geschmack herrichten können.
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Haus Erft wurde rundum saniert und renoviert. Jetzt bietet es Platz für sechs Bewohner, die die erste Zeit nach der Haft hier leben können.
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Richy Bäcker sagt, der Gedanke an seine Kinder, die zwischen fünf und 16 Jahren alt sind, habe ihn oben gehalten und motiviert, nach vorne zu schauen: „Im Offenen Vollzug in Euskirchen hab ich dann von einer Pfarrerin von diesem Wohnprojekt hier gehört. Einer meiner ersten Ausgänge, die ich machen durfte, ging dann gleich zur Caritas.“
Um ein Zimmer im Haus Erft zu ergattern, müssen viele Voraussetzungen bei dem Bewerber stimmen. „Wir führen intensive Vorstellungsgespräche, um uns ein Bild von der Person machen zu können“, sagt Caritas-Vorständin Maria Surges-Brilon. Dabei gehe es um die Haltung des Bewerbers und um seine Ziele: „Wir müssen das Gefühl bekommen, dass derjenige wirklich dazu bereit ist, sich auf das Konzept von Haus Erft einzulassen.“ Zuvorderst steht die aktive Mit- und Zusammenarbeit am Resozialisierungsprozess. Eigeninitiative und Engagement in allen angebotenen Maßnahmen seien unerlässlich.
Glaubhafter Wille zur Abstinenz muss bei den Bewohnern vorhanden sein
Viele Haftentlassene haben zudem ein Suchtproblem, was kein Ausschlusskriterium für die Vermietung eines Zimmers im Haus Erft ist. „Aber die Bereitschaft zur Abstinenz muss glaubhaft vorhanden sein. Die Arbeit an der Suchtbewältigung ist ein zentrales Ziel“, sagt Surges-Brilon. Wenn nötig, werden auch Urinkontrollen durchgeführt.
„Ich glaube persönlich, dass es wichtig ist, sich bewusst zu machen, wie jemand vorher und in der JVA gelebt hat. Das muss man wertfrei und auf Augenhöhe besprechen, um die Sehnsucht nach Freiheit dann auch gut gestalten zu können.“ Je nach Länge und Art der Haft könnten selbst alltägliche Dinge schon zu einer Herausforderung werden, weil die Begrenzungen im Gefängnis von der Selbstständigkeit entwöhnen.
Richy Bäcker schätzt vor allem die Haltung, mit der ihm als Mieter begegnet werde: „Die Kommunikation hier ist immer wertschätzend und auf Augenhöhe. Dass ich hier einziehen konnte, mag daran liegen, dass ich Eigeninitiative mitbringe und das Potenzial habe, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich brauche nur ein paar Anschubser.“
Wir führen intensive Vorstellungsgespräche, um uns ein Bild von der Person machen zu können.
Tatsächlich war der 60-Jährige der erste Bewohner im Haus Erft, nachdem es vom Caritasverband komplett saniert und neu möbliert worden war. „Schauen Sie sich um: Schöner kann man nicht leben!“, begeistert sich Richy Bäcker für die Chance, die ihm dort geboten wird. Frisch abgezogene Holzböden, helle Räume, viele Fenster und ein kleiner Garten sorgen für ein Ambiente, in dem man sich schnell wohlfühlen kann. Ein Büroraum im Erdgeschoss wird von den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern genutzt und ermöglicht Vier-Augen-Gespräche.
Aber auch gemeinsames Kochen und Freizeitgestaltung werden angeboten: „Die gesellschaftliche Teilhabe ist wichtig, weil Zufriedenheit ein bedeutender Schutz vor Suchtmittelkonsum und Straffälligkeit ist“, erklärt Maria Surges-Brilon.
Braten, Klöße und Rotkohl: Richy Bäcker kochte Weihnachten für alle
Dass innerhalb des Hauses weder Drogen noch Alkohol konsumiert werden dürfen, erklärt sich von selbst. Und auch Besuch kann nicht einfach so ins Haus, es braucht die Genehmigung durch die Mitarbeitenden der Caritas. „Wir möchten die Personen dann vorher kennenlernen und mit ihnen über die Regeln im Haus sprechen. Und wenn wir den Eindruck haben, dass das nicht passt, behalten wir uns auch vor, Nein zu sagen“, so Sozialarbeiterin Gina Raths.
Für Richy Bäcker stand kurz vor Weihnachten bereits der nächste Schritt in Richtung Eigenständigkeit an – sein Auszug aus dem Haus Erft in eine eigene kleine Wohnung in Euskirchen: „Die habe ich über die Kümmerer der Caritas gefunden.“ Weihnachten wollte der 60-Jährige aber trotzdem noch im kleinen Kreis der Haus-Erft-WG feiern: „Ich werde den Jungs dann Braten, Klöße und Rotkohl kochen.“
Auf Weihnachten in Freiheit freute er sich ganz besonders. „Im Gefängnis läuft an den Feiertagen alles einfach wie immer, vielleicht gibt es mal ein Stück Stollen oder einen Joghurt als Extra“, erzählt Bäcker. Man sei mit den Gedanken bei der Familie: „Klöße hat man da nur im Hals, nicht auf dem Teller. Da fließen auch mal die Tränen.“
An den Feiertagen ist die Sehnsucht nach Familie und Geborgenheit groß
Caritas-Vorständin Surges-Brilon, die selbst schon häufig beratend in den JVAs der Umgebung tätig war, weiß, dass „an Weihnachten alle Sehnsüchte nach Familie, Geborgenheit, Wärme und Liebe hochkommen. Diese Zeit verstärkt bei vielen Insaßen das Gefühl von Einsamkeit.“
Die Resozialisierung von Strafgefangenen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gelingt sie nicht, brechen die vielleicht gefassten guten Vorsätze schnell weg, und die Betreffenden werden schlimmstenfalls wieder straffällig. Laut einer Erhebung des Bundesjustizministeriums liegt die Rückfallquote bei etwa 34 Prozent. Bei Kurzzeitinhaftierten (bis zwei Jahre) liegt die Rückfallquote innerhalb der ersten 15 Monate nach der Haft bei 50 Prozent. Für Richy Bäcker nicht vorstellbar. „Wer will da wieder hin?“, fragt er kopfschüttelnd.
Im Konzept von Haus Erft steht explizit, dass man den Bewohnern dabei helfe, ihr kriminelles Verhalten zu reflektieren und individuelle Strategien zu entwickeln, um künftig ein straffreies Leben zu führen. Maria Surges-Brilon: „Es gilt, Verantwortung zu übernehmen und nicht Entschuldigungen zu finden.“
Die Unterstützung versteht sich als eine Hilfe zur Selbsthilfe
Mit dem Haus Erft will der Caritasverband Euskirchen haftentlassenen Männern bei ihrer Resozialisierung helfen. „Mit sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Methoden unterstützen wir sie im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe“, so das Konzept.
In dem Haus gibt es Platz für sechs Personen. Aufgenommen werden Männer ab 21 Jahren, die nach ihrer Entlassung aus umliegenden Justizvollzugsanstalten „mit erheblichen sozialen Herausforderungen konfrontiert werden“, also Probleme bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, der Suche nach Wohnraum, dem Aufbau sozialer Beziehungen oder dem Umgang mit Sucht- und/oder psychischen Erkrankungen haben.
Die Immobilie wurde zuvor vom Verein „Die Brücke“ genutzt, der sich ebenfalls um entlassene Strafgefangene gekümmert hat. Dieser Verein hat sich aufgelöst. Da der Caritasverband Euskirchen schon seit 1990 im Justizvollzug arbeitet, übernahmen er die Immobilie, um für diese Zielgruppe eine weiterführende Hilfe aufzubauen. Und diese gibt es in der Form nur selten: Weder eine Suchterkrankung noch die Art der Straftat schließen die Aufnahme ins Haus Erft aus.
Das Haus liegt in einem Wohngebiet in der Stadt Euskirchen, die genaue Adresse soll aber nicht öffentlich werden – zum Schutz der Mieter vor Stigmatisierung. Caritas-Vorständin Maria-Surges-Brilon glaubt, dass es bei der Resozialisierung helfen könne, wenn „wir alle nicht so genaue Bilder davon haben, was ,normal' ist. Es gibt so viele Normalitäten. Je mehr wir da Spielraum geben können, umso weniger stigmatisieren wir. Wenn dann noch etwas Menschenliebe und Wohlwollen dazukommen, ist schon viel geschafft.“

