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Standortnachteil Köln
Ineos muss Hunderte weitere Stellen streichen

6 min
Ineos-Schriftzug im Chempark Worringen

Ineos produziert im Kölner Norden seit Jahrzehnten Basischemikalien. Nun gefährden ungünstige Rahmenbedingungen die Zukunft des Standorts.

Kölns drittgrößter industrieller Arbeitgeber kämpft ums Überleben. Bei Ineos werden zwei Anlagen stillgelegt.

Fragt man beim Kölner Basischemie-Unternehmen Ineos, ob man sich an eine vergleichbar kritische Situation erinnern könne wie derzeit, erntet man einhelliges Kopfschütteln. „Noch nie“, sagt der kaufmännische Geschäftsführer und Arbeitsdirektor Patrick Giefers, immerhin seit 25 Jahren im Unternehmen. Erstmals seit Jahrzehnten können Auszubildende „nur in Ausnahmefällen übernommen werden“.

Der neue Jahrgang ist zudem ein Drittel kleiner. Zwei von 21 Anlagen bei Ineos Köln werden stillgelegt. Kollegen, die das Unternehmen verlassen oder in den Ruhestand gehen, werden nicht ersetzt. Betriebsbedingte Kündigungen sollen so vermieden werden. Die Belegschaft, die vor einem Jahr noch bei rund 2500 Beschäftigten lag, ist auf diese Weise bereits auf rund 2300 abgeschmolzen. In naher Zukunft werden es „deutlich unter 2000 sein“, glaubt Giefers.

Ineos-Management: „Anlagen sind top in Schuss"

Dabei frustriert die Kölner Ineos-Belegschaft vor allem, dass die wirtschaftliche Notlage „hausgemacht“ sei. Damit meinen die Kollegen nicht die Konzernspitze, sondern die Politik. Die Kölner Anlagen des nach eigenen Angaben drittgrößten industriellen Arbeitsgebers der Stadt seien „top in Schuss“ und „durchoptimiert“, bestätigt das Management. Ineos habe Köln als Spitzenstandort in Europa gesehen und entsprechend in den vergangenen zehn Jahren zwei Milliarden Euro im Rheinland investiert. Sprich: Technisch macht Ineos Köln niemand in der Welt so schnell etwas vor. Es sind die Rahmenbedingungen, die nicht mehr stimmen.

Ineos-Geschäftsführer Patrick Giefers (l.) neben Betriebsrats-Vize Leonhard Huckschlag. Im Hintergrund der Ineos-Chempark in Worringen.

Ineos-Geschäftsführer Patrick Giefers (l.) macht gemeinsam mit Betriebsrats-Vize Leonhard Huckschlag auf die dramatische Situation beim Chemieunternehmen aufmerksam.

Erdgas ist seit Beginn des Ukrainekrieges drei Mal so teuer wie in den USA oder China, auch Strom ist um die Hälfte teurer als für die internationalen Wettbewerber. Vor allem setzt Ineos aber der CO₂-Preis zu. Nachdem die Kosten für Emissionszertifikate zuletzt auf rund 80 Euro je Tonne gestiegen sind, machen die Zertifikatspreise einen zweistelligen Prozentsatz an den Gesamtkosten aus. In Zahlen: „80 bis 100 Millionen Euro jährlich“, heißt es bei Ineos. Das ist von der Politik so gewollt, um Unternehmen dazu zu bringen, ihren CO₂-Ausstoß zu verringern. Ineos beklagt aber: Die Alternativen stehen gar nicht zur Verfügung.

Alternativen zur CO₂-intensiven Produktion nicht verfügbar

Beispiel Elektrifizierung. Wenn Ineos seine Steamcracker, Anlagen zum Aufspalten von Rohbenzin, mit Strom betreiben wollte, würde sich der Strombedarf am Standort verfünffachen. „Ein Ausbau des Stromnetzes würde aber zehn bis zwölf Jahre dauern“, sagt Stephan Müller, Energy Commercial Manager bei Ineos Köln. In ähnlich weiter Ferne sind Alternativen wie die Versorgung mit Wasserstoff, für die ein Kernnetz erst gebaut werden muss oder das Einfangen und Abspeichern von CO₂.

Auch letztere Option, bei der die Emissionen in leere Öl- oder Gasfelder verpresst werden, damit sie nicht klimawirksam werden, erfordert ein leistungsfähiges Pipelinenetz für den Abtransport der Gase. Selbst wenn das politisch gewollt wäre, ließe sich die nötige Infrastruktur frühestens innerhalb einer Dekade aufbauen. Zu spät für Ineos.

Stephan Müller, Energy Commercial Manager bei Ineos Köln im Chempark Worringen.

Stephan Müller, Energy Commercial Manager bei Ineos Köln, warnt: „Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, wird es kein Ineos in Köln mehr geben.“

Denn Anlagen, die in der Vergangenheit meist zu 90 Prozent ausgelastet waren, arbeiten heute schon nur noch mit halber Kraft. „Die aktuelle Auslastung liegt unter 60 Prozent“, erklärt Giefers. Das liegt sogar noch deutlich unter dem ohnehin schwachen Branchenschnitt, der im Sommer laut Auskunft des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) auf 72 Prozent gesunken ist – den niedrigsten Wert seit 34 Jahren. Auslastungsquoten unter 80 Prozent gelten gemeinhin als unwirtschaftlich. Seit Jahren muss die Ineos-Mutter in Großbritannien daher Verluste ihrer Kölner Tochter ausgleichen. „Das wird auch in diesem Jahr so sein“, bestätigt Giefers. Schwer vorstellbar, dass die Konzernmutter unter den gegenwärtigen Bedingungen weiter in Köln investiert.

„Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, wird es kein Ineos in Köln mehr geben“

Stephan Müller wird deutlich: „Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, wird es in Deutschland keine Basischemie mehr geben und damit auch kein Ineos in Köln mehr.“ Betreiber von neun europäischen Steamcrackern haben bereits beschlossen, ihre Anlagen stillzulegen. Darunter auch der US-Wettbewerber Dow, der keine Zukunft mehr für seine Anlage im sächsischen Böhlau sieht. BP will die Tochter Ruhr Oel, die zwei Cracker in Gelsenkirchen betreibt, bis Ende des Jahres losschlagen. Bislang hat sich kein Käufer gefunden.

Das ist vor allem deshalb kritisch, weil die Cracker als das Herzstück von Produktionsverbünden gelten. In den großen Chemparks nutzen Unternehmen Häfen, Sicherheitsinfrastruktur und Pipelines gemeinsam. Vorprodukte, die etwa bei Ineos Köln entstehen, werden zudem in direkter Nachbarschaft weiterverarbeitet, was Logistikkosten spart. Ineos Köln gibt beispielsweise an, dass 80 Prozent der produzierten Chemikalien an Kunden im Umkreis von 200 Kilometern gehen. Zudem wird Abwärme über Rohrverbindungen weitergeleitet und reduziert Energiekosten in benachbarten Anlagen im Chempark Dormagen. Wenn die Basischemikalien in Zukunft fehlen oder die Pipelines nicht mehr ausgelastet sind, droht ein Dominoeffekt. „Das ganze Verbundsystem droht zu kippen“, heißt es bei Ineos.

Industriestrompreis soll 2026 kommen

Zudem sei dem Klima mit einer Anlagenschließung nicht geholfen. Stephan Müller führt aus: „Die Produkte, die wir hier herstellen, werden weiter gebraucht.“ In 95 Prozent aller produzierten Güter in Deutschland steckt Basischemie, auch in Materialien, die für die Energiewende unerlässlich sind, wie Schmierstoffen und Korrosionsschutz für Windkraftanlagen, Dämmmaterial und Isolierungen, Düngemitteln und Leichtbauwerkstoffen etwa für den Automobilbau. Fehlt die Produktion vor Ort, müssen die Chemikalien oder daraus hergestellte Waren eingeführt werden, mutmaßlich zum großen Teil aus Asien. Damit wären aber nicht nur der Produktionsstandort und die Arbeitsplätze verlagert, sondern auch die Emissionen. „Der CO₂-Fußabdruck von Ware aus China ist doppelt so groß wie der von hier hergestellten Produkten“, sagt Müller. Hinzu kämen noch Klimalasten durch den Transport rund um den Globus.

Die NRW-Landesregierung verweist auf die Verantwortung des Bundes. Der müsse den von NRW schon lange geforderten „Brückenstrompreis als Übergangslösung endlich umsetzen.“ Am CO₂-Zertifikatehandel will NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) aber festhalten. Dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ erklärt sie: „Der Emissionshandel ist das zentrale marktwirtschaftliche Klimaschutzinstrument Europas – kein Selbstzweck, aber auch kein Werkzeug, das man einfach pausieren kann." Eine Aussetzung hält die Ministerin für den falschen Weg, weil sie „die Glaubwürdigkeit der europäischen Klimapolitik und die Planungssicherheit der Unternehmen beschädigen würde.“ Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hat einen niedrigeren Industriestrompreis für Januar angekündigt. Noch wird darüber mit der EU-Kommission verhandelt.

Ineos-Gründer Jim Ratcliffe: „industrieller Selbstmord“

Für zwei Ineos-Standorte in NRW kommt die Entlastung bereits zu spät. In Rheinberg muss das Unternehmen zwei Anlagen dauerhaft herunterfahren, rund 175 Stellen fallen dadurch weg. In Gladbeck wird der Standort komplett geschlossen. Bis Ende 2027 gehen hier 280 Jobs verloren. Die Zukunft des Standorts Marl ist nach Unternehmensangaben ebenfalls „gefährdet“. Ineos produziert hier als letztes Unternehmen in Europa überhaupt BDO, ein Zwischenprodukt unter anderem für die Herstellung von Antibiotika. „Wenn wir nicht handeln“, sagt Andrew Brown, CEO von Ineos Enterprises, „wird Europa seine Fähigkeit verlieren, viele seiner Medikamente selbst herzustellen, und die medizinische Grundversorgung ist gefährdet.“ Der schillernde Ineos-Gründer Jim Ratcliffe, einer der reichsten Briten und Anteilseigner von Manchester United oder dem Mercedes-AMG Formel 1 Team, sprach zuletzt gar davon, dass Europa „industriellen Selbstmord“ begehe.

Wird von der Politik nicht gegengesteuert, verschärft sich die Situation in den kommenden Jahren sogar noch. Denn mit der planmäßigen Verknappung der Emissionszertifikate wird der Preis unweigerlich ansteigen. Analysten halten Preise je Tonne von 100 bis 160 Euro für möglich. Im Extremfall entspräche das einer erneuten Verdopplung der Zertifikate-Kosten.

Das Argument, Europa müsse beim Klimawandel Vorreiter sein, überzeugt Ineos-Manager Müller nicht. „Wenn wir Vorreiter sein wollen, müssen wir es schon so machen, dass es auch funktioniert. Die anderen Nationen beobachten das ganz genau und sehen, dass wir damit unsere Industrie zerstören“, so Müller. Er ist sich sicher: „Niemand folgt uns.“