Jedem fünften Heimkind in NRW wurden missbräuchlich Medikamente verabreicht. Eine neue Studie beleuchtet ein dunkles Kapitel in der Nachkriegsgeschichte des Landes.
Heimkinder wurden für Medizinversuche missbrauchtNRW-Gesundheitsminister bittet Opfer um Verzeihung

Heimkinder im Landeskrankenhaus Bonn des LVR (Landschaftsverband Rheinland). Das Foto wurde vom LRV im Buch „Anstandswelten“ verwendet.
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Detlef Lichtrauter fällt es schwer, über die Zeit zu sprechen, die er im Bonner Kindersanatorium Haus Bernward verbracht hat. „Nach dem Abendessen bekam jedes Kind eine Tablette, eine bunte Kapsel, die man ohne Wasser herunterschlucken musste. Kinder, die über Nacht ins Bett gemacht hatten, mussten nach dem Frühstück nach vorne treten, sich entblößen und bekamen vor allen anderen Kindern eine Spritze in den Po“, berichtet Lichtrauter. Der Arzt der Einrichtung habe mit den Medikamentengaben nur ein Ziel verfolgt. „Die Kinder sollten sediert werden, damit sie keinen Ärger machten.“
Am Mittwoch ist Lichtrauter nach Düsseldorf gefahren. Im Landtag nimmt er auf dem Podium der Landespressekonferenz neben NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann Platz. Der CDU-Politiker stellt eine Studie zum Medikamentenmissbrauch an Kindern und Jugendlichen von der Gründung des Landes bis in die 80er Jahre vor. Sie beschreibt, dass Medikamente systematisch eingesetzt wurden, um Kinder und Jugendliche gefügig zu machen. Psychopharmaka wurden zu Forschungszwecken verabreicht, die Heimkinder zu medizinischen Versuchsobjekten gemacht. „Mit denen kann man es ja machen“, sei der vorherrschende Geist bei den Beteiligten gewesen, erklärt Professor Heiner Fangerau von der Universität Düsseldorf, der die Expertise mit erstellt hat. Bei dem Missbrauch handele es sich nicht um Einzelfälle. „Das Vorgehen war oft institutionell verankert“, betont der Medizinhistoriker. Nach „konservativen Schätzungen“ seien zirka 20 Prozent der untergebrachten jungen Menschen von dem Medikamenteneinsatz betroffen gewesen.
Laumann: „Opfer haben Unfassbares erlitten“
Bis in die 80er Jahre waren in NRW rund 500.000 Kinder in Heimen untergebracht. Ärzte, Pharmaunternehmen und das Personal in den Einrichtungen hatten offenbar kein Störgefühl dabei, Medikamente zu verabreichen. „Die Opfer haben in den stationären Einrichtungen Unfassbares erlitten“, betont Gesundheitsminister Laumann. „Als Sozialminister des Landes NRW und stellvertretend für die gesamte Landesregierung bitte ich alle Betroffenen aufrichtig um Verzeihung für das, was ihnen angetan wurde.“
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Die Studie ist 260 Seiten lang und wirft ein Schlaglicht auf die dunkle Geschichte von vielen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in NRW, die heute noch existieren. Das Franz-Sales-Haus in Essen gehört zu den Heimen, in denen Kinder betreut wurden, die für „schwachsinnig“ gehalten wurden, weil sie nicht der sozialen Norm entsprachen. Dort wurde das Arzneimittel Decentan erprobt, das Patienten beruhigen soll. Die empfohlene Dosis wurde absichtlich um das Siebenfache überschritten. Laut der Studie soll die Firma Merck das Medikament dem Heim überlassen haben, um es vor der Registrierung zu erproben.
Risiko von Hirnhautentzündung wurde in Kauf genommen
Versuche an Heimkindern dienten auch dazu, die Wirkung von Impfpräparaten zu erproben. So wurde der Studie zufolge an 106 Kindern und Jugendliche Probeimpfungen gegen Pocken durchgeführt. Die Tests fanden in Düsseldorf, Duisburg und Wuppertal statt. Die Antikörper waren aus lebenden Tieren gewonnen worden. Rindern wurden am Bauch gegen Pocken geimpft, danach entstanden auf der Kuhhaut Pusteln, die ein Serum enthielt, das für den Impfstoff verwendet wurde. Das Risiko, dass die Kinder an einer Hirnhautentzündung erkranken konnten, wurde in Kauf genommen.
Klare Gesetze für Arzneimittelversuche wurden in Deutschland erst 1978 erlassen. Laut Gesundheitsminister Laumann hat das Land bislang rund 10.000 Opfer finanziell entschädigt. Die Studie weist kritisch darauf hin, dass der Kampf um einen Ausgleich meist beschwerlich war. Verantwortliche Institutionen wie die Landschaftsverbände LWL und LVR würden „die erfahrene Gewalt und den Medikamentenmissbrauch weiterhin oft negieren und teilweise nur sehr schwerfällig, zum Beispiel über Klagewege, einen Teil zur Aufarbeitung des Geschehenen beitragen“, heißt es. Die oft langatmigen Prozesse spielen den Trägern in die Hände – viele Opfer sind mittlerweile hochbetagt und erleben den Tag der Auszahlung ihrer Entschädigung nicht mehr. Viele Betroffene hatten eine einmalige Entschädigung von 9000 Euro erhalten.