Ex-Bundesliga-Profi Jorginho hilft Kindern und Jugendlichen in der Favela, in der er selbst aufgewachsen ist. Unser Autor war beim Besuch dabei.
Jorginhos Sozialprojekt in RioMit Bayer-04-Boss Carro im kugelsicheren Van durch die Favela

Favela-Einwohner Mineiro (l.) umarmt Bayer-04-Chef Fernando Carro. Daneben Jorginho.
Copyright: Jörg Schüler/Bayer 04
Die Delegation von Bayer 04 schaut in einen Pistolenlauf. Zumindest liegt die schwarz glänzende Kurzwaffe auf einem kleinen Holztisch und nicht in einer Hand der drei kräftigen Männer, die plötzlich auftauchen. Daneben eine braune Couch, das Polster ist durch das zerfetzte Leder zu sehen. Ein schwarzer Boxer liegt auf dem grauen Beton. Die Männer mustern die Fremden mit durchdringenden Blicken und zeigen mit ihren Walkie-Talkies vermeintlich ziellos durch die Gegend, als sie vorbeilaufen.
Wenige Momente zuvor war die eben noch unverwüstliche Freundlichkeit aus Jorginhos Gesicht gewichen. Er zischte mehr als er es sagte, die Botschaft war aber unmissverständlich: „Jetzt keine Fotos!“ Kurz darauf signalisierte er den drei Männern mit einer Begrüßung durch Berührung der Fäuste: Es ist okay, dass die „Gringos“ dabei sind.
Vorbei am Holztisch geht es noch rund 50 Meter unter dem auf Betonstelzen gebauten, verblasst gelben Mehrfamilienhaus weiter. Dann ist er da, der Treppenaufgang. Putz bröckelt von den mit Graffiti bemalten Wänden, Kabel hängen lose von der Decke. Es ist ein kleiner Weg, aber zugleich die Treppe zu Jorginhos Vergangenheit. Dort oben wuchs er in einem kleinen Zimmer mit noch kleinerem Fenster auf. Unten an den Stelzen wischte er von 4 bis 7 Uhr den Boden, bevor er wenige Meter weiter zur Schule ging. Jorginho hat seinen freudigen Gesichtsausdruck längst wiedergefunden und sagt: „Ich hatte damals Angst vor Geistern und träumte von Disneyland.“ Dann zeigt er nach links auf eine Sportanlage, seine Sportanlage. „Doch das, was hier entstanden ist, ist viel besser als Disneyland.“
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Im kugelsicheren Van fahren sie in die Favela
Rund anderthalb Stunden zuvor kam Jorge José de Amorim Campos, kurz Jorginho, am Grand Hyatt Hotel in Barra da Tijuca an. Einem Luxushotel an einem der schönsten Strände Rio de Janeiros. Der 60 Jahre alte ehemalige Fußballprofi, der in den 1990er Jahren für Bayer Leverkusen und den FC Bayern München in der Bundesliga spielte und 1994 mit der brasilianischen Nationalmannschaft die Weltmeisterschaft gewann, ist gekommen, um den Konvoi zur Favela mit seinem Pkw anzuführen. Direkt dahinter fährt ein schwarzer, kugelsicherer, gepanzerter Van. Die Insassen: eine ausgewählte Delegation um Fernando Carro, Vorsitzender der Geschäftsführung bei Bayer 04 Leverkusen, und Klub-Legende Paulo Sergio.

Paulo Sergio begrüßt Kinder und Jugendlich im Complexo dp Muquico.
Copyright: Jörg Schüler/Bayer 04
Während des Trainingslagers der Werkself in Brasilien ist ein Besuch des „Instituto Bola pra Frente“ eingeplant. Es ist Jorginhos Lebenswerk, das ihm mehr bedeutet als der Ruhm, den er als Fußballer erlangte. Die soziale Einrichtung rief er vor 25 Jahren ins Leben, mitten in einem Brennpunktviertel in Rio, seiner Heimat. Als der Van losrollt, hat Fernando Carro bereits sein Tablet auf dem Schoß platziert. E-Mails checken, Absprachen treffen, Pressespiegel lesen. Der Spanier erzählt von einem Treffen mit Luiz Eduardo Baptista am Vortag. Dem Präsidenten des Gastgeberklubs der Reise, Clube de Regatas do Flamengo. Es sei gut gelaufen, berichtet Carro. Im Kleinbus mit 13 Menschen dröhnt ein Wirrwarr von Stimmen und Gelächter. Handyvideos werden einander vorgespielt. Durch die Fenster sind Surfer zu sehen, auf der Suche nach der perfekten Welle im Südatlantik an diesem Sonnentag im südamerikanischen Winter.
Der Fußballplatz, das Tor zur Hoffnung
Rund eine Fahrtstunde später sind die Surfer und der Strand eine unbeschwert wirkende Momentaufnahme der Vergangenheit. Stattdessen sind durch die getönten und verspiegelten Fenster mit Stacheldraht gesicherte Häuser zu sehen, Militärpolizei patrouilliert mit Maschinengewehren, auf einem Schrottplatz an der Haltestelle Deodoro stapeln sich Eisenbahnwagen. Es sind nun nur noch wenige Meter bis zum „Bola pra Frente“ – auf Deutsch „den Ball nach vorne spielen“. Die Anlage liegt im Complexo do Muquico im Nordwesten Rios. Eine der ärmsten Gegenden der Metropolregion, die sich über acht Favelas mit geschätzten 30.000 Einwohnern streckt. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand.
Ein älterer Mann öffnet die großen Gittertore zur Anlange. Es ist das Tor zur Hoffnung für rund 450 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 17 Jahren, die hier betreut werden. Sie kommen entweder schon am Morgen, oder nach der Schule. „Hier waren insgesamt schon 15.000 Studenten. Ich bin Weltmeister, das war ein schöner Pokal, aber das hier, das ist die schönere Trophäe“, sagt Jorginho beim Blick über die Anlage mit Hauptgebäude und Fußballplatz. Neben ihm steht seine Tochter, Vanessa Campos. Sie leitet die Einrichtung, vor der eine Statue gebaut wurde. Ein Stahl-Strichmännchen hält ein Fußballtor über seinen Kopf. Das Denkmal ist Antonio Carlos da Silva Adao, genannt Catanha, gewidmet. „Mein Vater war aggressiv“, erzählt Jorginho. „Catanha war eine Vaterfigur für mich. Er brachte mir viel bei, auch Fußball. Er starb leider viel zu früh“. Bei einem Autounfall auf der Avenida Brasil. Sie ist eine der meistbefahrenen Straßen Brasiliens und verläuft direkt oberhalb der angrenzenden Favelas.
Schutt, Müll, Crack – und herzliche Umarmungen
Der Tross steigt wieder in den Van, Vanessa und ihr Vater wollen zwei der Favelas zeigen. Die anderen Bereiche seien zu gefährlich, da traue sich nicht mal der so beliebte Fußballstar hin. Das Auto parkt neben einem Bahngleis. Der Boden ist gesäumt von Müll, auffallend oft ist Alufolie zu sehen. Sie dient einigen Bewohnern zum Erhitzen von Crack, einer weit verbreiteten Droge in der Gemeinschaft. Mit dabei ist auch Mineiro, er trägt Jogginghose und Brasilien-Trikot. Er ist neben Jorginho und Paulo Sergio die Eintrittskarte in die Favelas. „Mineiro wohnt hier zwar erst, seit er 20 Jahre alt ist, aber ihn kennt wirklich jeder hier“, sagt Vanessa Campos. Die herzlichen Umarmungen mit den Bewohnern im Minutentakt belegen die Aussage. Mineiro führt Carro und seine Mitarbeiter in den Community-Teil Triangulo.

Das Instituto Bola pra Frente direkt in der Favela, in der Jorginho aufgewachsen ist.
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Nur wenige Menschen sind auf den Straßen. Der Großteil geht einer geregelten Arbeit nach. Sie sind Busfahrer, Putzkräfte oder auch Lehrer, berichtet Jorginho. Das Gehalt reiche aber eben nicht aus, um sich eine gewöhnliche Wohnung leisten zu können. Also leben die Menschen hier, im Dreck. Die Hütten bauen sie selbst, aus jeglichem Material, das sie auf der Straße finden – oder klauen können. Besonders beliebt sind verlassene Autos, Züge oder andere Maschinen. Metall, Steinbrocken und eigens angerührter Mörtel werden zusammengebastelt. Einige Hütten stapeln sich, sind ineinander verschachtelt. Boden, Decken und Wände zu teilen, hilft. „Manchmal kommen Autos von der Fahrbahn der Avenida Brasil ab und krachen auf die Blechdächer. Wenn es regnet, fließt neben dem Wasser auch der ganze Müll von der Straße in die Häuser“, erzählt Mineiro vom Alltag der Bewohner.
An der Hauptstraße der Favela geht es nach rechts in eine enge Gasse. Sie liegt hinter einer der vielen Stahltüren, hinter denen sich zahlreiche weitere Wohnkomplexe verstecken. An der Wand lehnt eine ältere Frau. Ihre Klamotten sind löchrig. Sie ist blind, spricht nicht, tastet nach den unerwarteten Besuchern. Es scheint ihre Art zu sein, sie willkommen zu heißen. In jedem kleinen Zwischenraum liegt Schutt und Müll. Am Ende der Gasse ist die Wohnung von Samuel. Er ist einer der Schüler von „Bola pra Frente“. „Bei ihm wurde kürzlich eine unheilbare Krankheit festgestellt, durch die er bald nicht mehr laufen und an unseren Sport-Kursen teilnehmen kann“, erzählt Vanessa Campos. „Wir haben ihm einen Rollstuhl besorgen können, sodass er dennoch Teil von allem ist.“ Mineiro und Jorginho umarmen Samuel und seine Mutter, bevor es wieder aus der schmalen Schlucht auf die größere Gasse geht.
Schönheit und bedrückende Armut liegen dicht beieinander
Immer tiefer geht es in die Favela. Eine Frau kommt entgegen, schaut die deutschen Besucher an und sagt: „Oh, unsere Community ist aber schön heute.“ Wenige Meter weiter lehnt sich ein Mann mit grauem Bart in eine Aussparung der Häuserwand, die nur schwerlich als Fenster bezeichnet werden kann. Er trägt Flamengo-Trikot, hält eine Dose Bier in der Hand und schaut in die Hütte, in der die Aufzeichnung eines Fußballspiels auf einem Fernseher läuft.

Bei Edna in der Küche: Carro (v.l), Paulo Sergio, Jorginho, Edna mit Tochter und Mineiro.
Copyright: Jörg Schüler/Bayer 04
Es ist die Nachbarschaft von Edna. Sie ist sehr beliebt, vor allem, weil sie den einzigen Ofen weit und breit besitzt. Über ihrer Hütte verläuft ein Stromkabel, das sie angezapft hat. Edna ist Mutter eines leiblichen und drei adoptierter Kinder, die von ihren Eltern verkauft wurden. Carro und einige andere betreten den Wohnbereich, der Mülleimer quillt über, die lebendigen Farben des Obsts auf der Theke erhellen den kahlen Raum. Edna spricht mit Mineiro und Jorginho, als eines der adoptierten Kinder Angst bekommt. Das fünfjährige Mädchen fürchtet, sie würde nun zurück zu ihren Eltern gebracht. Alle gehen wieder nach draußen. Eine Bayer-Mitarbeiterin kann ihre Emotionen nicht mehr zurückhalten. Sie leiht sich eine Sonnenbrille von einem Kollegen, um ihre Tränen zu verbergen. Unglaubliche Schönheit und bedrückende Armut sind Nachbarn in Rio.
Auf dem Rückweg zum Van kommt der Tross an einem verlassenen Waggon vorbei, der auf einem toten Gleis steht. Er wurde komplett ausgehöhlt. Alles, was zu entfernen war, wurde mitgenommen, um die Hütten zu verstärken – oder sie einzurichten. Es geht zurück zu Bola pra Frente. Während der Fahrt zur Anlage herrscht Stille im Van, wenn doch gesprochen wird, nur im Flüsterton. Dann zeigt Jorginho, wo er aufgewachsen ist. „Sie sind vom dritten Kommando, verkaufen nur Marihuana und Koks. Schlimmer ist das rote Kommando ein paar Straßen weiter. Dort wird Crack verkauft“, sagt er über die drei bewaffneten Drogendealer in der Nähe seines alten Treppenhauses.
Jorginho erzählt von Schießerei neben dem Fußballplatz
Der Bandenkrieg sei schon ein Problem, betont er. Erst zuletzt habe es wieder eine Schießerei direkt neben der Anlage gegeben. „Ich war mit ein paar Sechs- bis Neunjährigen direkt neben dem Fußballplatz“, erzählt er. „Die Jungs und Mädchen sind bei den ersten Schüssen wild umhergerannt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich hinlegen.“ Jorginho zeigt hinter den Zaun zur Fußballbar „Fla-Flu“ und imitiert das Geräusch von Schnellfeuerwaffen: „Dort ging es nur: Pa pa pa pa pa.“ Danach seien sie alle aufgestanden und der Tag ging ganz normal weiter.

Paulo Sergio (l.), Vanessa Campos, Jorginho und Carro.
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In einem Raum des vierstöckigen, blauen Hauptgebäudes neben dem Sportplatz, in dem die Schüler in Erziehung, Kultur und Sport unterrichtet werden, kommt es zu einem Aufeinandertreffen mit fünf 16- und 17-Jährigen. Sie werden im Herbst für einige Tage nach Deutschland reisen und erstmals in ihrem Leben die Community verlassen. „Wir haben eine Partnerschaft mit der Stadt Köln“, sagt Vanessa Campos. Auch ein Besuch eines Spiels von Bayer 04 ist bei der Reise eingeplant. Wichtig sei, dass sie nach der Reise mit einem guten Gefühl auch wieder in ihre Community zurückkommen. Die beiden Ex-Fußballstars sprechen mit den Jugendlichen. Ihre Kernbotschaft laut Jorginho: „Zehn Tage können dein Leben verändern. Sie sollen mit neuen Ideen für ihr Leben zurückkommen.“
Vor der Abreise überreicht Carro Trikots von Bayer 04. Er nimmt Jorginho in den Arm und sagt ihm zu, dass man eine Form der Unterstützung durch den Werksklub finden werde, da ihn das Projekt sehr beeindruckt habe. Zurück im Van zückt Carro wieder das iPad. Der Alltag ruft. Termine abgleichen, Mails abarbeiten. Doch dann klickt er plötzlich auf die Karten-App seines Tablets, scrollt ein wenig umher, ehe er eine Mitarbeiterin fragt: „Wo waren wir genau gerade?“ Er schaut sich die Gegend auf der Karte an. Dann schaut er ein paar Minuten aus dem Fenster.